Rezension über „Märchenmusik“ in der Berliner Zeitung, Juli 1995
PLATTENTIPP: Märchen
Nicht nur Tasteneleven werden sich an dieser Sammlung von „Märchenmusik“ für Klavier zu vier Händen erfreuen. Auch Erwachsenen oder Nur-Hörer finden bestimmt rasch Zugang zu den mehrteiligen Charakterstücken: „Zwei Wunderöchslein“ (Ránki), „Nussknacker und Mäusekönig“ (Reinecke), „Eine Woche mit der Elfe Schließauge“ (Schmitt) und „Mutter Gans“ (Ravel). Ihren poetischen Zauber kostet das gut harmonierende Heidelberger Klavierduo Adelheid Lechler / Martin Smith sehr einfühlsam aus. Pb
Rezension über „Märchenmusik“ in „Musikmarkt“ April 1995
„Märchenmusik“ - bildhaft erzählt
Die schöne Tradition des Märchenerzählens ist weithin aus der Mode gekommen. Super Pedros und andere geistlose Festplattenabenteuer haben Dornröschen, Schneewittchen oder Rotkäppchen in Pension geschickt: An die Stelle der eigenen Fantasie- und Bilderwelt ist die Konserve getreten.
Wer sich einen Rest jener einstigen Kinderwelt bewahrt hat, die mit Hans Christian Andersens und der Brüder Grimm Figuren bevölkert war, sollte sich die neue CD des Heidelberger Klavierduos gönnen, anstatt darauf zu hoffen, daß sich auf den öffentlichen-rechtlichen oder privaten Kanälen wieder einmal etwas Ansehenswertes ereignet. „Märchenmusik“ haben Adelheid Lechler und Martin Smith ihre gemeinsame Einspielung genannt, die sie mit Werken von Carl Reinecke (1824-1910), Florent Schmitt, (1870-1958), Maurice Ravel (1875-1937) und György Ránki (1907 - 1992) bestückt haben. Und tatsächlich ist den beiden Künstlern, die seit 1987 zusammen auftreten, eine ebenso märchen- wie zauberhafte CD gelungen: Stilistisch und inhaltlich abwechslungsreich, technisch ohne Fehl und Tadel, rundum erfrischend und vergnüglich präsentiert das Duo ein Programm, das neben Maurice Ravels kostbarer „Erzählung“ Ma mère l’oye“ ausschließlich Raritäten bzw. Katalogneuheiten enthält. Das veritable Duo gibt damit dem Klavier eine schon verloren geglaubte Rolle zurück: als Vermittler poetischer Inhalte.
Der Mendelssohn- und Schumann-Freund Carl Reinecke schrieb sein Klavierduo „Nußknacker und Mäusekönig“ op. 46 auf eine Erzählung von E.T.A. Hoffmann. Es besteht aus einer Ouvertüre mit sieben nachfolgenden Bildern, von denen die Zeitschrift „Signale für die musikalische Welt“ 1855 wohlwollend schrieb: „Sie gibt geeignete Gelegenheit, ein rasches, feuriges Spiel zu ermöglichen und Präzision im Zusammenwirken zweier Kinder zu erzielen. Mögen die Kinder sich aber den braven Nußknacker zum Ideale nehmen und an einigen in der Technik verborgenen Nüssen tüchtig beißen, sie werden dann sicher geknackt werden, oder – der böse Mäusekönig wird in die lässigen Finger beißen.“
Dem Franzosen Florent Schmitt gefiel die eigene Komposition „Une semaine du petit Elfe Ferme-l’œil“ („Eine Woche mit der Elfe Schließauge“) offenbar so gut, daß er sie instrumentierte und 1912 an der Opéra Comique in Paris als Ballett aufführen ließ. Ihm diente Hans-Christian Andersens Märchen „Ole Luköje“ als Vorlage – die Geschichte vom Sandmann Ole, der eine Woche den kleinen Hjalmar besucht und ihm viele fantastische Geschichten erzählt.
Der Ungar György Ránki schließlich filterte seine vierhändige Version der „Két bors ökröcske“ („Zwei Wunderöchslein“) aus der Musik, die er zu dem gleichnamigen Film geschrieben hatte. In der Klavierfassung werden die einzelnen Abschnitte der Geschichte von einem Sprecher in einfachen Reimen erzählt: So erfährt der Hörer, wie der Bauernbursche, nachdem er einem Bettler sein Brot geschenkt hat, die zwei wunderbaren Ochsen erhält, die sich als wahre Arbeitstiere erweisen und den unverschämten Schlossherrn in Angst und Schrecken versetzen, Tünde Nagy spricht die Verse in lupenreinem Ungarisch – doch keine Bange: Mit Hilfe der eigene Fantasie und vor allem des Booklets kann auch der des Magyarischen Unkundige die Ereignisse verfolgen, die Ránki außerordentlich plastisch illustriert hat.