Rezension des [Marburger Forums] über ein Vortragskonzert von Dr. Renate Wieland und Martin Smith
Spielend gedacht
"Klang des Endens" - Dr. Renate Wieland und Martin Smith interpretierten am 8. Juni 2001 in Vortrag und Konzert Schuberts Klaviersonate in G (D 894 Op. 78) im Philipp-Melanchthon-Haus, Marburg.
Es ist eine Seltenheit in der Philosophie, dass z w e i Autoren e i n Werk schreiben. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben mit ihrer "Dialektik der Aufklärung" in den Vierzigern eine der zentralen philosophischen Schriften des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Das Besondere des Projektes spürt man noch heute: es lebt - wie die Autoren selbst behaupten - aus der "Spannung der beiden geistigen Temperamente, die in der 'Dialektik' sich verbanden".
Die Philosophin und Musikwissenschaftlerin Dr. Renate Wieland (Frankfurt) und der Pianist Martin Smith (Tübingen/Heidelberg) haben mit ihrer Einheit von wissenschaftlicher und pianistischer Interpretation einer späten Schubertsonate (1826) zwar keine neue "Kritische Theorie" entworfen. Sie haben sich aber - ähnlich den Vätern der Kritischen Theorie - zusammen um das Verständnis eines Phänomens bemüht: hier eines ästhetischen. Wer darunter jedoch das nur "Schöne", "Gefällige" versteht, konnte es während des anspruchsvollen Vortrags gewiss nicht finden. Dies liegt in der Natur der Sache. Denn es geht beiden - und hierin wird ihnen Kunst zur Philosophie - um die Frage nach der Wahrheit, nicht fern dem Anspruch Horkheimers und Adornos.
In minutiöser Beleuchtung der kompositorischen Details forschte Wieland in ihrem Vortrag dem "Klang des Endens" im Kopfsatz ("Molto moderato e cantabile") nach. Bereits die Intensität, mit der die Interpretin dem Anfangs-Akkord der Sonate nachhorchte, bannte die Aufmerksamkeit der Hörer auf diese außergewöhnliche Musik: fast unmerklich unter der Oberfläche des verklingenden, paradoxerweise zu enden scheinenden, liegenden G-Dur-Klanges schlummert eine enorme rhythmisch-dynamische Spannung, die sich im Verlauf des Satzes zu einer Geste des insistierenden schmerzlichen Aufschreis entwickelt.
Wielands Interpretation legt nahe, dass dieser Schrei des Subjekts einer gegen die objektive Gewalt sei, ein Vorbehalt also gegen die Welt, wie sie ist. Das Unversöhnliche der Schubertschen Musik, ihr wehmütiges, erschütterndes "Nein" zu bestehenden Verhältnissen, ihre Sehnsucht nach einer anderen Welt, die es doch nicht gibt; ihre resignierende Geste des einsamen Endens, ihre schmerzliche Distanz zum Leben: dies sind Schlagworte, die man - so könnte ein Einwand lauten - doch nicht aus den Noten ableiten könne.
Der Adorno-Schülerin Renate Wieland gelingt es, genau das zu entwickeln, was Adorno die "zweite Reflexion" des Kunstwerks nennt. Das Kunstwerk reflektiert ähnlich einem Spiegel die Perspektive, die die Gegenwart auf es wirft. Aufgabe der Interpretation ist, die Spuren, die die Zeit im Kunstwerk hinterlässt, zu verfolgen und den Sinn durch die Sprache erneut zu "reflektieren" und somit der Erkenntnis zugänglich zu machen. Wielands Deutung wirkt deshalb stringent, weil sie auch verbal alle Details der Komposition in einen Sinnzusammenhang bringt.
Dass dieser Sinn wiederum klingend nachvollziehbar wurde, war Martin Smiths Verdienst. Wielands Argumente verdeutlichte er mit musikalischen Ausschnitten, harmonischen und melodischen Vereinfachungen, so dass diejenigen, die nicht wussten, was ein "Sextakkord" oder eine "verdoppelte Terz" usw. ist, dennoch einen akustischen Anknüpfungspunkt hatten.
Nach der Pause spielte Smith die ganze Sonate am Stück. Äußerst behutsam entfaltete er durch sein gestisch fein moduliertes Spiel die Bewegung der Musik. Im Vergleich zu Brendels sehr "männlicher" Einspielung, die sich für die innere Dynamik der Musik kaum Zeit lässt, spürt er behutsam dem Drang der Motive bis in feinste dynamische Schattierungen nach und macht den Zusammenhang sogar der scheinbar schroffsten Gegensätze verständlich: die Dialektik von Ruhe und beunruhigender Spannung im anfänglichen ersten Thema, die leicht gebrochene und in Umspielungen entrückte Ländler-"Idylle" des zweiten Themas, aus der der Hörer schroff herausgerissen wird, bleiben in dieser Interpretation immer auf den sinnstiftenden "Grundton" der Musik bezogen.
In einer Welt, die allein auf das materielle Glück und die Geltung des Einzelnen zielt, ist es fast schon ein wunderbarer Anachronismus, dass sich zwei auf den Weg begeben, der Musik Schuberts zum Ausdruck zu verhelfen: Ausdruck verstanden weder als Dekor noch als emotionale Befriedigung, sondern als objektiver Ausdruck der Musik selbst, als klingender Kommentar zum Leben. Ihre gemeinsame Idee macht deutlich, dass es einen musikalisch-verbalen Diskurs, ein Miteinander ohne Herrschaft, die den Geist so oft unterdrückt, vielleicht doch noch geben kann.
Dr. Renate Wieland und Martin Smith haben mit diesem ungewöhnlichen und anspruchsvollen Vortragskonzert dem Musikkundigen Schuberts musikalische Gedankenwelt sehr nahe gebracht. Auf eine erneute spannungsreiche Begegnung von Kunst und Philosophie in Gestalt weiterer Gesprächskonzerte ist "philoSOPHIA" gespannt.
Ralf Rohmann